Im Gespräch mit Marion Heidelberger

Marion Heidelberger im Interview

Marion Heidelberger wusste schon immer, dass sie eines Tages Lehrerin werden würde. Inspiriert vom innovativen Unterrichtsstil ihres Mittelstufenlehrers, besuchte sie nach der Matura direkt das Lehrerseminar und begann kurz darauf zu unterrichten. Mehr als drei Jahrzehnte später ist die heute 55-jährige Zürcherin noch immer Lehrerin mit Leidenschaft – und seit zwei Jahren auch Schulleiterin. Ihr Engagement für die öffentliche Bildung geht jedoch weit über das Schulhaus hinaus: 12 Jahre lang war sie Vizepräsidentin des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz; 31 Jahre lang engagierte sie sich für den Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband (ZLV), davon 20 Jahre als Präsidentin. Seit der Gründung der Stiftung Pestalozzianum ist sie Mitglied des Stiftungsrats und seit Juni letzten Jahres auch Präsidentin der Fördergesellschaft Pestalozzianum. Auf LinkedIn unterstützt sie den Dialog über innovative Schulen mit mehr als 4000 Followern, und ihre Facebook-Gruppe «Lehrerinnen und Lehrer Schweiz» hat inzwischen mehr als 6000 Mitglieder, die sich täglich über aktuelle Themen und Herausforderungen im Schulalltag austauschen.

Frau Heidelberger, Sie sind seit drei Jahrzehnten im öffentlichen Bildungswesen tätig. Wie nehmen Sie den Wandel in der Schule wahr?

Grundsätzlich stelle ich fest, dass die Heterogenität stark zugenommen hat. Früher waren die Werte, Erziehungsstile und Strukturen zu Hause relativ ähnlich. Das ist jetzt ganz anders. In einer Klasse mit 24 Kindern werden Sie höchstwahrscheinlich auf 24 verschiedene Wertesysteme und Erziehungsstile treffen, was insbesondere die Lehrpersonen vor grosse Herausforderungen stellt. Die Gesellschaft befindet sich im Umbruch und die Schulen können da noch nicht so mithalten, wie ich es mir wünschen würde.

Was wären denn zwei oder drei Dinge, die Sie ändern würden?

Ich würde den Stundenplan und die Aufteilung nach Altersgruppen auflösen und einen ganzheitlichen Unterricht einführen, in der Balance zwischen Gemeinschaftsunterricht und Individualisierung. Ausserdem würde ich die Infrastruktur so anpassen, dass es mehr offene, attraktive Räume gibt, die viel Flexibilität bieten. Grundsätzlich würde ich mir einen Unterricht wünschen, der sich mehr auf die nötigen Kompetenzen konzentriert, die in einem modernen, digitalisierten Umfeld benötigt werden (siehe future skills).

Mein Engagement gehört einfach dieser Volksschule.

Marion Heidelberger

Apropos Gemeinschaft: Auf Ihrer Facebook-Gruppe «Lehrerinnen und Lehrer Schweiz» wird unter anderem auch das Thema Lehrermangel heftig diskutiert. Wie stehen Sie dazu?

Aus Sicht der Gewerkschafterin macht mich die Situation extrem wütend. Schon vor 20 Jahren haben wir darauf hingewiesen, dass es einen ernsthaften Lehrermangel geben wird. Das liegt zum einen am Trend zur Teilzeitarbeit (ein 100% Pensum ist kaum mehr leistbar, wenn man die Qualität aufrechterhalten möchte), und zum anderen kommen die grossen Babyboomer-Jahrgänge ins Pensionsalter. Die Politik hat unsere Ankündigungen nie ernst genommen, jetzt ist die Situation eskaliert. Der Lehrkräftemangel bereitet mir wirklich Bauchschmerzen und macht mich auch traurig. Es kann doch nicht sein, dass eine reiche Gesellschaft, wie die unsere, die Bildung ihrer Kinder vernachlässigt. Das ist ein Problem, an dem wir nicht einfach vorbeisegeln können und das uns noch lange beschäftigen wird.

Um dem Lehrermangel entgegenzuwirken, werden in Zürich seit letztem Sommer Personen ohne Lehrdiplom eingestellt. Was halten Sie davon?

Es ist sicherlich begrüssenswert, wenn Menschen aus anderen Bereichen ihre Expertise einbringen können. Aber der Beruf basiert – wie alle anderen komplexen Berufe auch – auf einem soliden Handwerk, das à fond erlernt werden und mit fundiertem akademischem Wissen – unter anderem in Pädagogik und Psychologie – untermauert werden muss. Ich bin mir sicher, dass es Menschen gibt, die auch ohne Lehrdiplom einen guten Job machen könnten, doch das setzt voraus, dass Schulleitungen und Lehrkräfte angemessen entlastet werden, um die Poldis zu unterstützen. Leider sind wir von der Politik in diesem Punkt noch nicht gehört worden.

Ein letztes Wort?

Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft und die Politik niemals den Wert einer guten Volksschule vergisst. Gute Bildung bedeutet letztendlich Chancengleichheit. Das müssen wir uns als Gesellschaft leisten. Es sichert unsere Zukunft und garantiert ein friedliches Miteinander.

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