• Fundstücke

Von der Radiosendung zum Podcast

«Kinderstunde» – so betitelte die 15-jährige Urheberin diese Zeichnung. Man sieht drei Kinder, die von einem unscheinbaren braunen Gegenstand in den Bann gezogen sind. An dem Gegenstand erkennt man einen Drehknopf, zwei Leisten und einen prominenten Regler in der Mitte. Worum es sich bei diesem Zauberkasten handelt, wird erst nach weiterer Recherche klar: Die «Kinderstunde» war Teil des SRF Kinderprogramms, das von 1931 bis 1974 gesendet wurde. Die Kinder versammeln sich hier also gebannt um ein Radio und lauschen der «Kinderstunde» mit ihren Hörspielen, Abenteuergeschichten und Reiseberichten. Nicht selten werden auch pädagogisch aufbereitete Informationen – etwa zu Verkehrserziehung – gesendet.

Radio – das neue Massenmedium

Das Radio war in den 1950er Jahren en Vogue: in Deutschland etablierte sich gerade die ARD (Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland), und in der Schweiz sendete die SRG (Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft) nicht nur Informations- und Unterhaltungsformate, sondern sollte mit ihren Berichten auch der Weiterbildung, kulturellen Entfaltung und Integration dienen. Im Laufe weniger Jahre wurde das Radio zum meist rezipiertesten Massenmedium in der Schweiz. Zwischen 1937 und 1950 verdoppelte sich die Anzahl der Haushalte, die Konzessionsgebühren zahlten, um das SRG-Programm empfangen zu können.

Menschen aller Altersgruppen nutzten das Radio als Informationsquelle, zum Musikhören, für Berichterstattungen und auch als Geräuschkulisse im Hintergrund. Der Sendeanteil für die jüngsten Zuhörer machte dabei nur einen Bruchteil (ca. 1,5%) der totalen Sendezeit aus. Aber Kinder hörten nicht nur das Kinderprogramm. Und genau dies führte in den 1940er und 1950er Jahren auch zu einer pädagogischen Kontroverse rund um die Chancen und Risiken, die mit dem neuen Massenmedium verbunden waren.

Zum Wohle des Kindes?

Mit der Etablierung des Radios im Kinderalltag wurden gleichzeitig kritische Stimmen zu den Folgen eines permanenten Radiokonsums laut. So liest man etwa in der Schweizerischen Lehrerzeitung (Heute: Bildung Schweiz), dass die Mehrheit der Kinder ständig Radio höre: beim Essen, beim Einschlafen, beim Lesen und bei den Hausaufgaben. Ständiger Radiokonsum bedeute ständige Lärmbelastung. Und genau das führe – so die Befürchtung – zu einem Leistungsabfall in der Schule und es stelle sowieso eine Zusatzbelastung für das Nervensystem. In der Kritik steht also nicht die Nutzung des Radios an sich und auch nicht das SRF-Kinderprogramm, sondern vielmehr die permanente und häufig auch unbewusste Nutzung des Radios als Begleitmedium des Alltags. (Eichenberger, 1949; B.M. et al., 1949)

Die Bedeutung der «Kinderstunde» heute

Im digitalen Zeitalter ist die «Kinderstunde» inzwischen durch neue Formate ersetzt worden, welche über TV, Social Media und Apps rund um die Uhr zugänglich sind. Dank der partizipativen Eigenschaften von Instagram, TikTok und Co. sind Kinder und Jugendliche aber nicht mehr nur Konsumenten, sondern auch Produzenten ihrer eigenen «Kinderstunde» geworden. So hat mit der Verbreitung von Smartphones und dem Aufkommen von Podcasts die Idee der Radiosendungen – wenn auch in einem anderen Format – wieder an Faszination gewonnen.

Diskussionen um Chancen und Risiken des Medienkonsums begleiten uns weiterhin. Eine virulente Frage ist immer noch die nach der sinnvollen Dauer der Mediennutzung. Oder mit unserem Fundstück gefragt: «Kinderstunde» oder «Kinderstunden» – wann gewinnen und wann verlieren die Kinder?

Weitere Informationen zu den historischen Kinder- und Jugendzeichnungen

Die Zeichnung «Kinderstunde» wurde beim Pestalozzi-Kalender-Wettbewerb eingereicht und prämiert. Der Pestalozzi-Kalender-Wettbewerb, der sich grosser Beliebtheit bei Kindern und Jugendlichen erfreute, ist Teil eines Schülerkalenders, der ab 1908 vom Berner Kaufhausbesitzer Bruno Kaiser unter dem Namen «Kaiser’s neuer Schweizer Schülerkalender» herausgegeben wurde. Auf dem Buchdeckel prangte ein Bildnis des Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi, weshalb der Kalender umgangssprachlich schlicht «Pestalozzi-Kalender» genannt wurde.

Der Zeichenwettbewerb des Pestalozzi-Kalenders mit ca. 22’000 Objekten ist ein Bestand der Kinder- und Jugendzeichnungen der Sammlungen Pestalozzianum. Mehr diskussionsanregende historische Kinder- und Jugendzeichnungen aus dem 20. Jahrhundert finden sich auf dem Portal Sammlungen Pestalozzianum der Stiftung Pestalozzianum.

Literatur

B.M., B.St., & Werder, M. (1949). Diskussion: Kind und Radio. Schweizerische Lehrerinnenzeitung, 53(16). https://doi.org/10.5169/SEALS-315517

Eichenberger, E. (1949). Unsere Schüler und das Radio. Schweizerische Lehrerinnenzeitung, 53(15). https://doi.org/10.5169/SEALS-315509

Autor:innen
Rebekka Stutz, Anne Bosche

Preview
«Panorama Pestalozzianum»

ab Oktober 2023

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